Sehr lesenswerter Artikel von Reinhard Seiß in „Die Presse“ vom 08.01.2022 Seite: 33
Ressort: Zeichen der Zeit
Österreich, Abend
Wohl noch nie zuvor hat ein verkehrspolitisches Thema hierzulande…
Wohl noch nie zuvor hat ein verkehrspolitisches Thema hierzulande dermaßen die Gemüter erhitzt wie der geplante Straßenausbau im Nordosten Wiens. Spätestens mit dem mutmaßlichen Brandanschlag auf das Camp der Projektgegner werden Erinnerungen an die Eskalation rund um die Proteste gegen das Donaukraftwerk Hainburg Mitte der 1980er-Jahre wach, die eine Zeitenwende markieren sollten. So richtig Fahrt aufgenommen hat der aktuelle Konflikt mit der vorjährigen Ansage der Grünen Verkehrs- und Klimaschutzministerin Leonore Gewessler, Österreichs Autobahn- und Schnellstraßenausbau – jahrzehntelang ein vom Bund bezahltes Wunschkonzert für Landespolitiker – kritisch zu hinterfragen. Mit dem Ergebnis, dass sie gleich mehrere Projekte, weil nicht mehr zukunftstauglich, stoppte.
Aufschreie aus allen Lagern waren und sind die Folge, insbesondere von den Befürwortern der sogenannten Lobau-Autobahn an der Grenze Wiens zu Niederösterreich. Neben Autofahrerklubs und Wirtschaftskammer tobt auch der Wiener Bürgermeister der selbst ernannten Umwelt- und Klimamusterstadt Wien. Ein Widerspruch? Nicht aus politischer Sicht! Michael Ludwigs Haltung ist typisch für Österreichs Nachhaltigkeitsstrategie: Klimaschutzmaßnahmen, die niemandem wehtun oder sogar neue Profitmöglichkeiten erschließen, werden ergriffen. Solche hingegen, die in Wirtschaft und Gesellschaft Ablehnung befürchten lassen – auch weil sie solitär anstatt eingebettet in ein ganzes Maßnahmenbündel diskutiert werden -, kommen kaum über das Stadium von Sonntagsreden hinaus. „Raus aus dem Beton! Raus aus dem Asphalt!“, lautet etwa das Motto der Wiener Planungs- und Verkehrsstadträtin Ulli Sima, die „eine klimaschonende Mobilität für alle, die auch ohne Besitz eines eigenen Autos auskommt“, als ihr großes Ziel nennt. Doch empfand sie allein schon die ministerielle Ankündigung, den im Nationalpark Donau-Auen geplanten Lobau-Tunnel nochmals zu prüfen, als „Horrornachricht“. Denn für die einstige Umweltaktivistin und spätere Umweltstadträtin ist ein durchgehender Autobahn- und Schnellstraßenring um Wien herum Voraussetzung für die weitere – aus ihrer Sicht nachhaltige – Stadtentwicklung im 22. Bezirk. Will die laut eigenem Dafürhalten weltbeste Metropole, die sich mit einer Internationalen Bauausstellung gerade dieses Jahr wieder als Maß aller Dinge präsentiert, tatsächlich der Weltgemeinschaft weismachen, dass Klimaschutz und weiterer Autobahnbau unter einen Hut passen, ja am Ende sogar einander bedingen?
Wer meint, Österreich stehe im EU-Vergleich klima- und verkehrspolitisch ohnehin gut da, der irrt. Laut Verkehrsclub Österreich sorgen wir mit unserer Mobilität für die – hinter Luxemburg – zweithöchsten Verkehrsemissionen pro Kopf und liegen damit rund 50 Prozent über dem EU-Schnitt, ein Drittel über dem Wert Deutschlands und drei Viertel über jenem von Schweden. Während der CO2-Ausstoß des Verkehrs seit den 1990er-Jahren in der EU um rund 25 Prozent zugelegt hat, ist er in Österreich um 60 Prozent gestiegen.
Wenig überraschend korrelieren diese Zahlen mit jenen im Straßenbau: So ist unser Autobahn- und Schnellstraßennetz eines der dichtesten Europas, seit 1995 von 1800 auf heute 2260 Kilometer gewachsen, wobei viele Abschnitte zusätzlich von vier auf sechs oder gar acht Spuren verbreitert worden sind – während das Schienennetz weiter geschrumpft ist. Im selben Zeitraum stiegen der Anteil des Autoverkehrs am Gesamtverkehr von 40 auf 48 Prozent und die durchschnittliche Tagesdistanz eines Autofahrers von 29 auf 36 Kilometer. Vor allem weil sich seit den 1990er-Jahren die Abwanderung von Geschäften, Arbeitsplätzen oder auch öffentlichen Einrichtungen aus den Zentren an die nur automobil erreichbaren Ränder – genehmigt und gefördert von der Politik – noch dramatisch verschärft hat.
Dabei wird niemand behaupten, dass wir Mitte der 1990er-Jahre nicht bereits genügend Autos gehabt hätten und damit überall bequem hingekommen wären. Doch stößt sich das Gros unserer Landsleute keineswegs daran, dass das Gros unserer Politiker seither mit jährlich mehr als einer Milliarde Euro den Autobahn- und Schnellstraßenausbau vorangetrieben hat und auch künftig vorantreiben möchte: jene Art von Politikern, die seit 1992 diverse, teils völkerrechtlich verbindliche Klimaschutzabkommen unterzeichnet und bricht, aber Fridays-for-Future-Aktivisten mit Schadenersatzklagen droht; jene Art von Politikern, die kein Geld erübrigen will, damit Alte und Kranke in einem der reichsten Länder der Welt angemessen gepflegt werden können – sich dafür aber um Pendler aus reichen Speckgürtelgemeinden sorgt und auf eine soziale Verträglichkeit verkehrspolitischer Entscheidungen pocht.
Weil hier schon viel von Wien die Rede war und noch weiter sein wird, sei erwähnt: Abseits der Bundeshauptstadt ist es oft noch schlechter um die Verantwortung der Entscheidungsträger für unsere Zukunft bestellt. Als verkehrspolitischer Hardliner unter den Bundesländern ist Niederösterreich zu sehen, wo der Straßenbau meist rein auf politisches Geheiß erfolgt, unbeeinflusst von fachlichen Bedenken. Davon zeugen eine Unzahl sinn- und geschmackloser Kreisverkehre, Österreichs wohl überflüssigste Autobahn quer durch das Weinviertel und nicht zuletzt aberwitzige Projekte gegen den Willen von regionaler Wirtschaft und Bevölkerung – wie jenes einer Waldviertelautobahn, das selbst hierzulande schwer zu argumentieren war. Konsequenterweise hat auch kein anderes Bundesland sein – im Falle Niederösterreichs überdurchschnittlich dichtes – Schienennetz so grundlegend ruiniert. Das stellen die Verantwortlichen in St. Pölten freilich anders dar. Der heutige Landtagspräsident, Karl Wilfing, behauptete in seiner Zeit als Verkehrslandesrat glatt, man habe nach der Schweiz den besten öffentlichen Verkehr der Welt. Dass Niederösterreich mit 654 Fahrzeugen pro 1000 Einwohner knapp nach dem – historisch bedingt vom Eisenbahnbau vernachlässigten – Burgenland den höchsten Motorisierungsgrad aller Bundesländer aufweist, schien ihn nie zu beirren.
Auch wenn andere Bundesländer heute ein glaubwürdigeres Engagement für den öffentlichen Verkehr zeigen, so finden sich zwischen Rheintal und Neusiedler See dennoch kaum Volksvertreter, die wirksame Maßnahmen zur direkten Reduzierung des Autoverkehrs wagen – etwa einen Rückbau überzogener Fahrbahn- und Parkplatzkapazitäten. Es bleibt der „Wahlfreiheit der Bürger“ überlassen, ob sie sich für optimal ausgebaute Straßen oder aber für das suboptimale, vielfach indiskutable Angebot auf der Schiene entscheiden. Gern berufen sich Politiker auf unser liberales, demokratisches System, sie wollen „den Bürgern nicht vorschreiben, wie sie unterwegs sind“. Sie tun es trotzdem, und zwar so, dass viele, die täglich ins Auto steigen, es gar nicht bemerken.
Die Verteidiger des „Systems Auto“
Maßgeblich für dieses verkehrspolitische „Denken“ sind freilich auch wirtschaftliche Interessen. Die Autoindustrie und ihre Zulieferer, die Erdöl- und Energiebranche, die Transport- und Logistiksparte sowie die Rohstoff- und Bauindustrie wissen ihr politisches und ökonomisches Gewicht einzusetzen, um unsere staatstragende, wenngleich ruinöse Wachstumsphilosophie auch im motorisierten Straßenverkehr aufrechtzuerhalten. Die Liste der Verteidiger des „Systems Auto“ ist freilich noch länger und reicht vom Handel mit seinen billigen und bequemen Standorten an Autobahnknoten und Kreisverkehren bis hin zu der mit allen genannten Profiteuren verbundenen Finanzwirtschaft. Selbst die Medienbranche hat hier keine neutrale Position: Wenn die größte Bankengruppe des Landes sowohl Miteigentümer an Österreichs bedeutendstem (Tief-)Baukonzern als auch an namhaften Printmedien ist, ist es unwahrscheinlich, dass Letztere – noch dazu gegen die Interessen potenter Inserenten – Stimmung gegen den Autobahnbau machen.
Und die Experten? Wie ernst zu nehmen ist die Automobilismuskritik von Stadt- und Raumplanern, Landschafts- und Verkehrsplanern, in deren Kreisen es heute als selbstverständlich gilt, unversiegelten Böden, vitalen Ortszentren und einer urbanen Stadt der kurzen Wege, unabhängig vom privaten Autos, das Wort zu reden? Was ist ihr Beitrag zu einer dringend nötigen Verkehrswende? Immerhin liefern sie die planerischen Grundlagen dafür, auf welchen Wegen wir zu welchen Zielen fahren. Hunderte von laufenden Großbauprojekten zeigen: Mehrheitlich schwimmt die Planerzunft nach wie vor mit dem Strom – und bedient sich in Sachen Klimaschutz derselben (Selbst-)Täuschungspraktiken wie die Politik. Da wäre etwa die blauäugige oder aber verlogene Hoffnung, dass der technische Fortschritt oder der gesellschaftliche Wandel von morgen die Probleme von heute löst. Dies hätte den angenehmen Effekt, dass wir so weitermachen können wie bisher. Doch dass die Bürger ihr Verkehrsverhalten von sich aus grundlegend ändern, ohne dass Politik und Planung die dafür maßgeblichen rechtlichen und finanziellen, baulichen und verkehrlichen Strukturen ebenso fundamental ändern, ist Illusion. Warum sollten die Bewohner der Schlafstädte im Nordosten Wiens auf ihre Autos verzichten, wenn man ihnen zusätzliche Schnellstraßen errichtet und sie mit Pendlerpauschale, steuervergünstigten Dienstwägen und kostenlosen Firmenparkplätzen weiterhin zur täglichen Autofahrt gen Süden in die Gewerbegebiete im niederösterreichischen Speckgürtel ermuntert?
Ähnlich illusorisch und doch auch unter Fachleuten beliebt sind jene Heilsversprechen, wonach die Nebenwirkungen des Automobilismus durch dessen technologische Weiterentwicklung zu beseitigen wären. Geforscht wird somit nicht nach Alternativen zum Auto, gesucht wird das alternative Auto! Auf Platz eins liegt hier im Moment das E-Auto. Dass der Strom dafür keineswegs immer nachhaltig und CO2-neutral gewonnen wird, ist nur eine gern übersehene Schattenseite dieses Hoffnungsschimmers. Rein gar nichts ändert die vierrädrige Elektromobilität an den stadt- und landschaftszersetzenden Effekten des Autoverkehrs: an der Suburbanisierung und Zersiedlung, am immensen Bodenverbrauch für Straßen und Parkplätze, an der Dominanz der Karossen im öffentlichen Raum zulasten anderer Verkehrsteilnehmer – oder auch zulasten nicht verkehrlicher Freiraumnutzungen, insbesondere in den dicht bebauten Zentren. Dieselbe Fehleinschätzung liegt dem Hype um autonomes Fahren oder um Telematik im Verkehr zugrunde, der von lukrativen, steuergeldfinanzierten Forschungs- und Entwicklungsaufträgen für Wissenschafter wie auch Großkonzerne genährt wird. Und ein weiteres Trugbild ist die nirgends genauer definierte „Smart City“, in die sich unsere autogerechten Städte wundersamerweise verwandeln sollen.
Politiker können mit derlei Verheißungen, die allesamt nicht mehr in ihrer Amtszeit eingelöst werden müssen, suggerieren, dass Verkehrswende und Klimaschutz keineswegs Umkehr oder gar Verzicht bedeuten müssen, sondern, ganz im Gegenteil, sogar zu einem Geschäftsmodell werden können. Journalisten wiederum sind leichter für futuristische Computeranimationen zu begeistern als für die immer selben Mahnungen, dass unsere Raubbaugesellschaft mindestens einen Schritt zurück machen müsste. Ein Blick zurück, um zu sehen, was seit den 1970er-Jahren aus all den angekündigten Quantensprüngen im Verkehr geworden ist, und inwieweit diese das konventionelle Auto ablösen konnten, würde den nicht enden wollenden Mobilitätsvisionen rasch ihren Zauber nehmen.
In Politik wie Fachwelt verbreitet ist auch die separierte Betrachtung von Problemen, die den Umgang damit deutlich einfacher macht. So meint man etwa in Wien, der autodominierten Stadtentwicklung wie auch dem Klimawandel eine Wendung zu geben, indem man die eine oder andere Einkaufsstraße zur Fußgänger- oder Begegnungszone umgestaltet. Gleichzeitig aber errichtet man in den Außenbezirken vierspurige Straßen und stattet weiterhin so gut wie jede Neubauwohnung mit einem Tiefgaragenplatz, dafür aber mit viel zu wenig Radabstellplätzen aus. Den Bewohnern im Speckgürtel wiederum, erst recht jenen im ländlichen Raum, gesteht man nach wie vor zu, ohne zwei Autos pro Haushalt kein würdiges Leben fristen zu können. Und wenn sie dann auf ihren Wegen in die Stadt im Stau stehen – sei es freiwillig, weil die Bahn nicht denselben Komfort bietet wie ein SUV, sei es unfreiwillig, weil die Bahn zu langsam, zu selten oder gar nicht mehr fährt -, ist irgendwann keine andere Lösung mehr vorstellbar als doch noch eine weitere Autobahn. Nichts anderes bezweckt der sogenannte Regionenring mit all seinen Verzweigungen: Er soll die Ostregion noch autogerechter machen. Dass Wien der vehementeste Befürworter dieses Schnellstraßenrings ist, obwohl er die Zahl von heute rund 200.000 Pendlern, die täglich per Auto in die Stadt kommen, noch weiter steigern wird, zählt zu den mannigfachen Schizophrenien in Verkehrspolitik und -planung.
Haarsträubende Gutachten
Mit der Evaluierung der unsäglichsten Straßenbauprojekte hat Ministerin Gewessler nur das gemacht, was seit den 1990er-Jahren bei allen größeren Bauvorhaben gesetzlich vorgesehen ist: deren Umweltverträglichkeit zu prüfen. Doch wurde das dafür gedachte Instrument nur selten ernsthaft angewandt – ja, wie der jüngst aufgedeckte Skandal in der Steiermark zeigt, sogar systematisch missbraucht. Allenthalben rechtfertigen willfährige Raum-, Landschafts- und Verkehrsplaner gemeinsam mit dienstbeflissenen Fachbeamten durch oft haarsträubende Gutachten politische Wunschprojekte. Bei besonders „wichtigen“, sprich: problematischen Vorhaben erfindet die öffentliche Hand teils sogar Gründe, warum es in diesen Ausnahmefällen gar keine Umweltverträglichkeitsprüfung brauche. Vielleicht ist der aktuelle Aufschrei der Autobahnbefürworter auch deshalb so laut, weil ihr jahrzehntelanges umweltpolitisches Spiegelfechten nun seine Glaubwürdigkeit verlieren könnte. Warum soll eine Schnellstraße durch ein geschütztes Feuchtgebiet plötzlich nicht mehr nachhaltig sein, obwohl die eigenen Experten sie für bedenkenlos hielten? Wie meinte etwa Bürgermeister Ludwig gegenüber der Ministerin? Wien habe schon vor 20 Jahren ein Klimaschutzprogramm gestartet – ihm brauche also niemand erklären, was Klimaschutz sei!